Eigenverantwortung: Die Schlüsselkompetenz für Selbstorganisation in Unternehmen

Strukturen geben Rahmen, in dem sich eine Selbstorganisation entfalten kann. Ob und in welchem Umfang dies geschieht, ist vor allem von einer Schlüsselkompetenz abhängig: Der Fähigkeit, Eigenverantwortung zu übernehmen.

Inhaltsverzeichnis

Übersicht

In einer sich immer schneller wandelnden Arbeitswelt realisieren immer mehr Unternehmen die Notwendigkeit, die eigenen Organisationsstrukturen neu zu denken. Denn die immer schnelleren Veränderungen der Märke machen eine verlässliche, langfristige Planung immer schwieriger. Die Art und Weise, wie Unternehmen geführt und organisiert werden, ist immer weniger wirksam. Ein Umdenken ist notwendig. Und so werden traditionelle Hierarchien zunehmend von alternativen Formen der Unternehmensorganisation abgelöst.

Mit Begriffen wie Agilität, Agile Führung, Soziokratie, Holokratie oder dem kollegial geführte Unternehmen werden verschiedene Arten der Selbstorganisation in Unternehmen beschrieben. Doch die Umsetzung gestaltet sich in der Praxis komplexer als gedacht. Oft entpuppen sich gross angekündigte Veränderungs- oder Transformationsprozesse als oberflächlich oder gleichen bei näherem hinsehen einem Theaterstück. Auf der Vorderbühne wird Selbstorganisation gespielt, auf der Hinterbühne sieht alles ganz anders aus. 

Die menschliche Komplexität wird relevanter

Die eigentliche Herausforderung müssen daher auf einer tieferen Ebene gesucht werden. 

Dabei wird ein entscheidender Punkt deutlich: Strukturen (z.B. eine Kreisorganisation) und Praktiken (wie z.B. Entscheidungswerkzeuge) können eine immense Auswirkung auf die Menschen haben, die in ihnen arbeiten.

Doch ihre volle Effektivität entfalten sie nur dann, wenn die Individuen in der Organisation die Verantwortlichkeiten in Eigenverantwortung übernehmen und ausführen.

Mit dem me&me Modell beschreiben wir die Basisbestandteile von sozialen Systeme wie Organisation. Diese bestehen nach unserer Überzeugung immer aus Strukturen und Praktiken (System) sowie der Zusammenarbeit und den Individuen (Mensch). 

Eigenverantwortung als Schlüsselkompetenz

Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen dem inneren Zustand der Nicht-Verantwortung und dem der (Selbst-)Verantwortung. Und für eine erfolgreiche Selbstorganisation in Unternehmen sind unserer Erfahrung nach Selbst- und Eigenverantwortung die Schlüsselqualifikationen.

Dabei stellt sich die Frage: Was bedeutet es überhaupt, Eigenverantwortung in einer selbstorganisierten Umgebung zu übernehmen?

Diese Frage erfordert eine vertiefte Betrachtung, da Verantwortung unterschiedlich interpretiert werden kann. Eine Definition, die wir im Rahmen des WegeV Programm nutzen, lautet wie folgt:

  • Verantwortlichkeiten sind die Aufgaben und Zuständigkeiten, die eine Person übernehmen solle.

  • Verantwortlichkeiten werden mittels Vereinbarungen übernommen. Übernimmt man eine Verantwortlichkeit, geht man eine Vereinbarung mit anderen Menschen ein. Je klarer die Rahmenbedingungen definiert und die gegenseitigen Erwartungen geklärt sind, desto spannungsfreier ist die Übernahme möglich.

  • Verantwortlichkeiten in Eigenverantwortung übernehmen und ausfüllen zu können, erfordert den inneren Zustand der Selbstverantwortung.

  • Selbstverantwortung bedeutet, dass ein Mensch in sich offen, entspannt und zentriert ist. Statt Probleme werden Lösungen gesehen. Die Kommunikation und Interaktion mit anderen erfolgt auf Augenhöhe, begleitet von Dialog und Mitgefühl.

Wie wirkt sich der Zustand der Nicht-Verantwortung aus?

Während Menschen im Zustand der Selbstverantwortung nach Lösungen suchen und die Verantwortung für ihre Emotionen übernehmen, fokussieren sie sich im inneren Zustand der Nicht-Verantwortung auf Probleme.

Im Zustand der Nicht-Verantwortung verhalten sich Menschen oftmals auf bekannte Weise. Wir definieren im Kontext des WegeV Programms unterschiedliche Arten der Nicht-Verantwortung. Diese sind in der grauen Box der nachfolgenden Grafik näher beschrieben.

WegeV Modell Eigenverantwortung 1

Nun könnte man argumentieren, dass der innere Zustand nur bedingt mit der Arbeit zu tun hat. Denn entscheidend ist doch, dass Menschen ihren Aufgaben nachkommen. In der Praxis zeigt sich, dass dies schon lange nicht mehr so ist.

Auswirkung in klassisch-hierarchisch organisierten Unternehmen

Der Zustand der Nicht-Verantwortung hat in klassisch organisierten Unternehmen eine geringere Wirkung als in selbstorganisierten Unternehmen.

Klassisch organisierte Unternehmen waren in der Vergangenheit durch das Prinzip Command-and-Control geprägt. Innerhalb dieser Strukturen galten Klarheit, Prozesstreue und Vorhersagbarkeit als hohes Gut. Überraschungen wurden als störend empfunden. Es war nicht erforderlich, die Sinnhaftigkeit einer Tätigkeit zu erkennen – entscheidend war, dass diese wie vorgegeben ausgeführt wurde.

Wer in einem solchen Kontext Verbesserungspotential sah und dieses in Eigenverantwortung zur Klärung brachte, konnte als störend empfunden werden. Denn Mitarbeitende sollen Weisungen ausführen und nicht in Frage stellen.

Zwar ist in weiten Teil der Wirtschaft dieses Prinzip in dieser Form schon lange nicht mehr vorzufinden. Die Haltung ist aber oftmals noch immer ein Bestandteil der DNA der Organisationen.

Heute dominieren nicht selten Strategien wie “Cover your ass” (dafür sorgen, dass man selbst gut dasteht wenn etwas schief geht) oder das verbreitete Blame-Game (MA, Abteilung, Lieferant, Kunde ist schuld). In einigen Unternehmen ist es auch normal, sich anzuschreien oder verbal fertig zu machen.

Der Zustand der Nicht-Verantwortung ist in klassisch-hierarchisch organisierten Unternehmen teilweise also sogar systemseitig erwünscht.

Auswirkungen in selbstorganisierten Unternehmen

Existieren in klassisch-hierarchisch organisierten Unternehmen wenige, dedizierte Führungskräfte, so bedeutet der Wechsel zu selbstorganisierten Strukturen oftmals auch, dass die Führungskompetenz auf mehr Menschen verteilt wird. Im Kontext des kollegial geführten Unternehmens sprechen wir dabei von dezentral-verteilter Führung, bei der die meisten Mitarbeitenden auch Führungskompetenz übernehmen.

Wo zuvor von “oben” Vorgaben gemacht wurden, entsteht ein Vakuum. Statt ein extrinsischer Push erfolgt der Wechsel zum intrinsischen Pull. Wenn man möchte, dass sich etwas verändert, bringt man es selbst ein.

Daher kann der Zustand der Nicht-Verantwortung in einem selbstorganisierten Unternehmen sich sehr viel deutlicher als in einem klassisch-hierarchisch organisierten Unternehmen auswirken, wie wir anhand der Beispiele verdeutlichen werden.

Anwendungsbeispiel «Spannungen und Konflikte»

Spannungen und Konflikte2

Wo Menschen aufeinander treffen, sind Spannungen und Konflikte eher die Normalität als die Ausnahme. Selten lernen Menschen, wie sie konstruktiv damit umgehen können.

Kommt es in traditionell organisierten Unternehmen zu Spannungen und Konflikten, so übernehmen die Vorgesetzten i.d.R. die Aufgabe, diese zu klären. Manche unterbinden diese gänzlich und sprechen ein Machtwort. Andere versuchen durch die rationelle Ebene zu einer vernünftigen Klärung zu gelangen. Und wieder andere versuchen zwischen den Positionen zu vermitteln. Selten werden Mitarbeitende aber dabei unterstützt, Spannungen und Konflikte eigenständig zu klären.

In selbstorganisierten Unternehmen gibt es im klassischen Verständnis keine Vorgesetzten mehr. Führung geschieht im Wechsel zwischen Führen und Folgen. Treten also Spannungen und Konflikte auf, gibt es keine formale Stelle mehr, die für die Klärung sorgt.

Wie Menschen und Teams mit ihren Spannungen und Konflikten umgehen, bestimmt letztlich, wie offen und konstruktiv sie zusammenarbeiten können.

Daher ist die Fähigkeit, Spannungen und Konflikte eigenständig klären zu können, für uns entscheidend im Kontext von selbstorganisierten Unternehmen. Und wer nun glaubt, dass Menschen dann ständig Klärungsgespräche miteinander führen müssten – nach unserer Erfahrung, können diese oftmals verhindert werden, wenn frühzeitig die innere Klärung erfolgt.

Und sollte es dann doch die Notwendigkeit geben, diese mit einem anderen Menschen zu klären, so zeigt sich, dass dies aus dem zustand der Selbst- und Eigenverantwortung am effektivsten gelingt.

  • Gelingt dies nicht, entsteht zunächst gegenseitiges Misstrauen und Menschen ziehen sich zurück.

  • Irrtümer und Fehler werden versucht zu verheimlichen oder die Schuld dafür im Aussen gesucht.

  • Die Fähigkeit zu Lernen reduziert sich immer weiter.

  • Sich gegenseitig zu beschuldigen wird normal.

  • Einige Menschen geben möglicherweise auf und kündigen innerlich.

Die Führung wird zunehmend dysfunktional und ist immer weniger in der Lage, der Verantwortungsbereich wird nicht mehr wirkungsvoll ausgefüllt und wirkt sich betriebswirtschaftlich aus.

Anwendungsbeispiel «geteilte Führungsverantwortung»

geteilte Fuehrung

Immer mehr Unternehmen wollen das Potential der Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven nutzen. Dazu übertragen diese die Führungsverantwortung an Kreise wie dies z.B. im Kontext der Soziokratie, der Holokratie und dem kollegial geführten Unternehmen geschieht.

Die Vielfalt kann aber nur genutzt werden, wenn Menschen bereit sind, sich vollständig mit ihrer Perspektive einzubringen und die Verantwortung zu übernehmen.

Wer sich nicht getraut, seine Meinung zu sagen (Selbstzweifel) oder sich gezwungen sieht, an Entscheidungsmeetings teilzunehmen, ohne den Sinn darin zu sehen (Verpflichtung), wird die Führungsverantwortung nur eingeschränkt oder gar nicht übernehmen können.

In der Praxis führt dies nicht selten dazu, dass die Meinung einzelner Kreis-Mitglieder übernommen wird. Sei es, aus fehlender Motivation, sich selbst mit einem Thema zu beschäftigen oder um unangenehme Situationen zu vermeiden (Disharmonie).

In diesen Fällen sprechen wir von Entscheidungstheater. Die Strukturen zur verteilten der Verantwortung sind vorhanden. Die Werkzeuge hierzu werden auch genutzt. Die Potentiale von diesen können so aber nicht genutzt werden.

Anwendungsbeispiel «überlastete Organisation»

wichtig und dringend vs wichtig aber nicht dringend

Geraten Organisationen unter zu viel Druck, so überhitzen diese auf Dauer. Die bekannte Eisenhower-Matrix zeigt auf einfache Weise auf, was auf Dauer geschieht. Eisenhower unterschied zwischen wichtig & dringend. Nicht wichtige Aufgaben werden nicht benötigt. Wichtig und (zeitlich) dringende Aufgaben sind oftmals das, mit dem Organisationen sich überwiegend operativ beschäftigen.

Aufgaben, die wichtig aber nicht dringend sind, müssen eingeplant und priorisiert werden. Geschieht dies nicht, so werden diese Themen über die Zeit dringend und immer schwerer lösbar.

Gerade in selbstorganisierten Organisation kann es unserer Erfahrung nach schnell geschehen, dass einzelne Kreise sich unter Druck fühlen und vor allem aus dem dringend-wichtig-Modus heraus handeln. Wenn die Marktlage unsicher ist, der finanzielle Druck steigt oder die Rahmenbedingungen unklar sind, ist es nicht ungewöhnlich, wenn sich Kreise gegenseitig beschuldigen oder die Umstände als Rechtfertigung für die aktuelle Situation zu nutzen.

Um adaptiv zu bleiben, ist allerdings Reflexion notwendig. Ohne innezuhalten und mit neuem Blick auf die aktuelle Situation zu schauen, sind neue Lösungen kaum möglich. Und gerade in selbstorganisierten Unternehmen können so schnell dysfunktionale Gruppendynamiken entstehen, die sich ausweiten können.

Fazit: Neue Strukturen erfordern auch entsprechende Bewusstheit

Die Herausforderung bei der Etablierung von einer hochfunktionalen Selbstorganisation liegt in der Abstimmung zwischen individuellem Bewusstsein und kollektiver Handlung. Dabei sind klare Strukturen genauso wichtig wie ein bewusster innerer Zustand. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ist essentiell für die erfolgreiche Umsetzung neuer Organisationsformen.

In einer Welt, die sich unaufhaltsam verändert, sind Selbst- und Eigenverantwortung keine blossen Schlagwörter, sondern die Grundpfeiler einer zukunftsfähigen Unternehmenskultur. Unternehmen, die diese Fähigkeiten fördern und leben, sind besser gerüstet, um flexibel auf Herausforderungen zu reagieren und nachhaltig erfolgreich zu sein. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, ist somit nicht nur ein Future Skill, sondern ein unverzichtbarer Schlüssel zur Gestaltung der Arbeitswelt von morgen.

Wie könnt ihr also mehr Selbst- und Eigenverantwortung ermöglichen?

Das WegeV Programm

Das WegeV Programm zeichnet sich durch niedrige Kosten und hohe Anpassungsfähigkeit auf den individuellen Kontext aus. Es lässt sich sehr effektiv in Teamentwicklungs-Prozesse integrieren. Das WegeV Modell bietet ein einfaches Reflexionsmodell, das die Förderung von Selbst- und Eigenverantwortung unterstützt.

Seit einem Jahrzehnt begleiten wir Menschen in transformativen Veränderungsprozessen. Gerade unsere tiefgreifenden Transformationsbegleitungen haben uns deutlich vor Augen geführt: Es fordert alles (System) und jeden (Menschen). Oder anders ausgedrückt: Verändert sich das System, fordert dies auch eine Weiterentwicklung des Menschen. 

Wir unterstützen daher Unternehmen auf ihrem Weg zu einer effektiveren Selbstorganisation mit unterschiedlichen Formaten. 

Derzeit fokussieren wir uns dabei auf diese beiden Programmformate, die wir auf den jeweiligen Unternehmenskontext anpassen. 

Wir sind auf eure Erfahrungen gespannt und freuen uns darauf, wenn ihr eure Erfahrungswerte mit uns teilt. 

Herzliche Grüsse
Ralf & Andreas